Zum Tode Yvon Heumanns
Jürgen Kirchner
Yvon Heumann ist für unsere Generation der Ehemaligen wohl der Direktor, den wir am besten in Erinnerung haben. Zur gleichen Zeit (1985-1994) war ich Leiter von Kindergarten und Grundschule an der ESM. Über die Jahre der Zusammenarbeit und weit darüber hinaus wurden wir gute Freunde. In dankbarer Erinnerung an Yvon schreibe ich die folgenden Zeilen:
Jürgen Kirchner
Yvon Heumann ist für unsere Generation der Ehemaligen wohl der Direktor, den wir am besten in Erinnerung haben. Zur gleichen Zeit (1985-1994) war ich Leiter von Kindergarten und Grundschule an der ESM. Über die Jahre der Zusammenarbeit und weit darüber hinaus wurden wir gute Freunde. In dankbarer Erinnerung an Yvon schreibe ich die folgenden Zeilen:

Yvon Heumann wurde am 28. Januar 1931 als Ivo-Rolf Heumann in Frechen bei Köln geboren. Sein Vater Arnold besaß eine Metzgerei und lebte in guter Nachbarschaft zu den Frechener Mitbürgern. Dies sollte sich jedoch unter dem Regime der Nazis ändern: 1933 wurde Arnold Heumann in „Schutzhaft“ genommen, nach dem energischen Protest seiner Frau Billa jedoch wieder freigelassen.
Im Juli 1933 – Hitler war im Januar Reichskanzler geworden - verließ die Familie Deutschland und suchte in Brüssel Zuflucht. Arnold Heumann baute sich dort eine neue Existenz auf, indem er in Brüssel lebende Deutsche mit Waren aus dem deutschsprachigen Gebiet um Eupen-Malmedy belieferte.
Yvon Heumann sagt über diese Jahre: „Die Zeit von 1936 bis 1939 waren sehr schöne Jahre für mich. – Ich ging sehr gerne zur Schule und hatte dort ein echtes Gefühl von Geborgenheit. – Aber es waren auch die letzten schönen Tage. Fünf furchtbare Jahre sollten folgen.“
Yvon Heumann - 2011 - im Park von Schloss Dyck
Am 10. Mai 1940 wurden alle in Belgien lebenden Deutschen festgenommen, auch die Familie Heumann. Frauen und Kinder wurden jedoch umgehend wieder freigelassen, die Männer hingegen nach Saint-Cyprien in Südfrankreich deportiert. 1941 gelang Arnold Heumann die Flucht aus Gurs in den Pyrenäen.
Die Heumanns ignorierten den Aufruf der Besatzer, sich in einer Kaserne in Mechelen einzufinden. Fortan lebte die Familie im Versteck. Der kleine Yvon war die einzige Verbindung zur Außenwelt. Er erledigte alle Einkäufe und Botengänge. Für die Juden in Brüssel war es von Vorteil, dass der General von Falkenhausen Stadtkommandant war. Er behielt weitgehend die Kontrolle über die Gestapo – im Gegensatz zu anderen Ländern wie etwa Polen oder Holland. - Von der weiteren Familie mütterlicher- bzw. väterlicherseits überlebten die Shoa nur Yvon Heumann, seine Eltern und ein Vetter.
Erst in späten Jahren sprach Yvon Heumann über diese Zeit, geprägt von Angst vor Verfolgung und Tod. Voller Zuneigung erzählte er dann von seinen Eltern: Von seiner Mutter, die ihn gerne verwöhnte, oder seinem Vater, einem begeisterten Sänger, selbst in düsteren Stunden.
Am 3. September 1944 wurde Brüssel befreit. Noch war aber der Krieg nicht zu Ende: V2-Raketen fielen auch auf Brüssel, und die Ernährungslage war nach wie vor prekär. – Nach zweijähriger Unterbrechung konnte Yvon immerhin wieder die Schule besuchen. Nach dem Abitur studierte er an der Université Libre de Bruxelles Altphilologie.
1953 wurde auf Initiative von Beamten der Gemeinschaft für Kohle und Stahl in Luxemburg die erste Europäische Schule gegründet. Yvon Heumann wurde 1955 von den belgischen Behörden an diese Schule abgeordnet. Man darf ihn also getrost zu den Pionieren der Europäischen Schulen zählen.
Es dauerte nicht lange, bis Albert Van Houtte, der erste Vertreter des Obersten Rates, auf diesen jungen, tüchtigen Lehrer aufmerksam wurde. Er machte ihn zu seinem Stellvertreter, der für das Tagesgeschäft des Rates verantwortlich war. In dieser Funktion blieb Yvon Heumann bis 1985, dem Zeitpunkt seiner Ernennung zum Direktor der Europäischen Schule München.
Ich begegnete Yvon Heumann erstmals 1978. Ich war Lehrer und Personalvertreter an der neuen European School of Culham in Oxfordshire. Das Verhältnis zu Herrn Heumann war bei den Debatten im Verwaltungsrat ziemlich angespannt. Wir fühlten uns bei der Festsetzung der Gehälter ungerecht behandelt und hatten das Gefühl, gegen eine Wand zu laufen.
Yvon Heumann tat eben das, was seine Aufgabe war: Er vertrat im Verwaltungsrat der Schule die Beschlüsse des Obersten Rates. Nur Fakten konnten ihn überzeugen, und dies gelang immerhin nach geraumer Zeit.
Als ich zum Herbst 1985 zum Leiter von Kindergarten und Grundschule an der ESM ernannt wurde und wenig später erfuhr, dass Yvon Heumann dort Direktor sein würde, hatte ich – offen gestanden - einen ziemlichen „Kloß im Magen“.
Nach einer Zeit des Abtastens entwickelte sich jedoch bald eine gute und unbelastete Zusammenarbeit, die mit den Jahren in eine Freundschaft überging. Ich genoss bei meiner Arbeit viel Freiraum, erwartet wurde im Gegenzug absolute Loyalität.
Im privaten Kontakt öffnete sich dieser scheue und zurückhaltende Mann zusehends. Er sprach sogar über seine Kindheit und Jugend mit all den traumatischen Erfahrungen, die er machen musste. Kollegen schätzten an ihm seine freundliche und gerechte Art: Er war eher ein Mann der leisen Töne, der analytisch abwägte, bevor er eine Entscheidung traf.
Er war aber auch ein Mann der Zahlen, ausgestattet mit einem phänomenalen Gedächtnis. Sein Steckenpferd waren Straßenbahnen und Züge. Nicht nur die Fahrpläne Brüssels hatte er im Kopf, sondern sehr bald auch die des MVV in München. – Zu seinem 60. Geburtstag schenkte ihm das Kollegium eine Sonderfahrt mit der Tram, bei der er selbst in den Führerstand durfte. Eine größere Freude hätte man ihm kaum machen können.
Besonders eng und privat wurde unser Verhältnis, als wir 1994 die ESM verließen: Yvon trat seinen Ruhestand an, während ich noch einige Jahre Leiter einer Schule in Nordrhein-Westfalen war.
In der Regel kam Yvon im Mai - zur Spargel- und Erdbeerzeit - zu uns zu Besuch. Meiner Frau machte es Freude, ihm eines seiner Lieblingsgerichte zuzubereiten. Nachmittags gab es dann Herren- bzw. Sachertorte von einem bekannten Gladbacher Konditor. Yvon gab gerne zu, ein wahres „Leckermäulchen“ zu sein.
Er revanchierte sich dann – meistens im Herbst – mit einer Einladung in ausgezeichnete Restaurants, oft im Raum Aachen, später dann in Brüssel und Umgebung. In den letzten Jahren forderten dann Alter und Krankheit ihren Tribut. Yvon verließ nur noch selten sein recht bescheidenes Appartement. Ende 2021 besuchte ich ihn zu einem letzten gemeinsamen Essen. Körperlich war er schon damals sehr gebrechlich, geistig jedoch wach wie eh und je.
Zu unseren Gewohnheiten gehörten regelmäßige Telefonate, die auch schon mal eine Stunde und länger dauern konnten. Nicht selten ging es um die Geschichte des 20. Jahrhunderts, ganz besonders den 1. Weltkrieg und die fatalen Folgen des Versailler Vertrages. - Immer wieder sprach Yvon auch von seiner Zeit in München, die er zu den glücklichsten in seinem Leben zählte. Die Arbeit als Direktor mit direktem Kontakt zu Kollegium und jungen Menschen zog er den rein administrativen Tätigkeiten aus der Vergangenheit eindeutig vor. Dazu liebte er die prächtige Stadt und die herrlichen Landschaften Bayerns.
Immer wieder sagte er, wie glücklich er darüber sei, dass zumindest Mitteleuropa seit 1945 von Kriegen verschont geblieben sei. Vielmehr sei die Verwirklichung der europäischen Idee ein Schatz, den es zu bewahren gelte. Er, der so Schreckliches in seiner Kindheit erlebt hatte, hatte sich in seinem ganzen beruflichen Leben in den Dienst dieser Sache gestellt. Mit großem Kummer nahm er wahr, wie dieser Frieden nun in Gefahr gerät.
Als ich vor etwa drei Wochen mehrfach versuchte, ihn – wie gewohnt - telefonisch zu erreichen, erhielt ich keine Antwort und geriet in große Sorge. Erst über seine Concierge, dann über eine Arztpraxis konnte ich am 14. Oktober einen Kontakt zu einer Pflegeeinrichtung in Ixelles herstellen. Noch am selben Tag gelang es mir, mit Yvon zu telefonieren. Er klang sehr schwach, so dass wir uns entschlossen, ihn am Sonntag, dem 16. Oktober, zu besuchen. Leider wurden wir in unseren Befürchtungen bestätigt: Wir ahnten, dass es ein Abschied für immer sein würde.
Bereits am folgenden Tag, am 17. Oktober 2022, erhielten wir die Nachricht, dass unser Freund Yvon verstorben sei. Er wurde 91 Jahre alt – wie seine Mutter. Meine Frau und ich denken dankbar an einen liebenswerten, bescheidenen und zugleich großzügigen Menschen zurück. Wir sind traurig, dass er so einsam und verloren von uns gegangen ist.
———
Anmerkung: Zahlreiche Fakten verdanke ich dem Beitrag "Yvon Heumann, Rückblick auf besonders schlimme Zeiten" mit einer Einleitung von Dr. Jochen Menge, Frechen, und Anmerkungen von Klaus Erich Schulte. Der Artikel ist 2014 im Jahrbuch des Frechener Geschichtsvereins erschienen.

Yvon Heumann am Familiengrab in Frechen bei Köln
Mittlerweile haben Kolleginnen und Kollegen ihre Anteilnahme bekundet:
Anne Bossaler: Danke für deine Nachricht. Ich wusste noch nicht, dass Herr Heumann verstorben ist. Der Artikel von Jürgen ist wirklich sehr einfühlsam und beschreibt Herrn Heumann so, wie ich ihn auch in Erinnerung habe.
Gisela Lüth: vielen Dank für diesen einfühlsamen Lebenslauf von Yvon Heumann!
Er hat mich für die ESM begeistert und
es war beeindruckend , wie wirksam die leisen Töne sein konnten,
eine so komplexe Welt wie die Europäische Schule zu führen.
Noch einmal wurde die Zeit in München lebendig…
Möge die Erinnerung an ihn noch lange in unseren Herzen weilen!
Nigel Evans: Thank you so much for that. We had heard from J. T. that he had died but had no idea of his past life.
Valerie Mill: I was sorry to hear of Herr Heumann’s death. I have good memories of him as Head of the ESM.
Jürgen Scherb: Herzlichen Dank für die - wenn auch - traurigen Nachrichten. Herr Heumann und ich haben zusammen 85 an der ESM begonnen. Der Nachruf von Jürgen Kirchner ist ehrlich und einfühlsam.
Janine Bryce: Thank you, Susanne. It was very sad to hear that he had died.
Andreas Beckmann, Generalsekretär der Europäischen Schulen: https://www.eursc.eu/de/Office/news
Europäische Schule München: https://esmunich.de/allgemein/alle-news/detail/article/nachruf.html
Ole Sørensen (ehem. Direktor KG/GS in Culham bzw. Luxemburg): It makes me sad to hear that Yvon Heumann no longer is with us. We had a good relationship which began when I became a member of the Bulletin Pédagogique in my early years in Brussels. I wrote to him in late August to thank him for his support in many of the 25 years I spent at the European Schools. I hope that his mind was clear at that time?
Peter Noss: Auch mir war er mit den Jahren zu einem väterlichen Freund geworden. Wir trafen uns meist im Sommer anlässlich der BAC-Prüfungen in Brüssel. - Herr Heumann war mir ein großes Vorbild mit einer bewundernswerten Mischung aus philosophischer Klarheit, Humor und Sarkasmus. Ich werde ihn nie vergessen.
Mittlerweile haben Kolleginnen und Kollegen ihre Anteilnahme bekundet:
Anne Bossaler: Danke für deine Nachricht. Ich wusste noch nicht, dass Herr Heumann verstorben ist. Der Artikel von Jürgen ist wirklich sehr einfühlsam und beschreibt Herrn Heumann so, wie ich ihn auch in Erinnerung habe.
Gisela Lüth: vielen Dank für diesen einfühlsamen Lebenslauf von Yvon Heumann!
Er hat mich für die ESM begeistert und
es war beeindruckend , wie wirksam die leisen Töne sein konnten,
eine so komplexe Welt wie die Europäische Schule zu führen.
Noch einmal wurde die Zeit in München lebendig…
Möge die Erinnerung an ihn noch lange in unseren Herzen weilen!
Nigel Evans: Thank you so much for that. We had heard from J. T. that he had died but had no idea of his past life.
Valerie Mill: I was sorry to hear of Herr Heumann’s death. I have good memories of him as Head of the ESM.
Jürgen Scherb: Herzlichen Dank für die - wenn auch - traurigen Nachrichten. Herr Heumann und ich haben zusammen 85 an der ESM begonnen. Der Nachruf von Jürgen Kirchner ist ehrlich und einfühlsam.
Janine Bryce: Thank you, Susanne. It was very sad to hear that he had died.
Andreas Beckmann, Generalsekretär der Europäischen Schulen: https://www.eursc.eu/de/Office/news
Europäische Schule München: https://esmunich.de/allgemein/alle-news/detail/article/nachruf.html
Ole Sørensen (ehem. Direktor KG/GS in Culham bzw. Luxemburg): It makes me sad to hear that Yvon Heumann no longer is with us. We had a good relationship which began when I became a member of the Bulletin Pédagogique in my early years in Brussels. I wrote to him in late August to thank him for his support in many of the 25 years I spent at the European Schools. I hope that his mind was clear at that time?
Peter Noss: Auch mir war er mit den Jahren zu einem väterlichen Freund geworden. Wir trafen uns meist im Sommer anlässlich der BAC-Prüfungen in Brüssel. - Herr Heumann war mir ein großes Vorbild mit einer bewundernswerten Mischung aus philosophischer Klarheit, Humor und Sarkasmus. Ich werde ihn nie vergessen.